S. Hofer: Richter zwischen den Fronten

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Titel
Richter zwischen den Fronten. Die Urteile des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion» 1933 – 1937


Autor(en)
Hofer, Sybille
Erschienen
Basel 2011: Helbing & Lichtenhahn Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rémy Limpach

Die «Protokolle der Weisen von Zion», eine der bekanntesten, folgenschwersten und übelsten je verfassten antisemitischen Schriften, verfügt über ein für viele Interessierte wohl überraschend starkes historisches Band zu Bern, da jüdische Organisationen die Bundesstadt 1933 zur juristischen Arena bestimmten, um Anzeige wegen des Verkaufs der «Protokolle» zu erstatten. Der folgende spektakuläre Prozess generierte weltweites Interesse, primär weil mit den «Protokollen» einer der ideologischen Pfeiler des nationalsozialistischen Antisemitismus vor Gericht stand. Dies veranlasste Sybille Hofer erstmals eine exakte juristische Analyse vorzulegen und somit eine – angesichts der Fülle an existierender Literatur über die «Protokolle» – erstaunliche Forschungslücke zu schliessen. Hofers Studie repräsentiert indes keineswegs trockenes «Juristenfutter», sondern spricht auch breite nichtjuristische Kreise an und setzt keine juristischen Kenntnisse voraus.

Die Autorin führt ihre Leserschaft zunächst in die politischen und juristischen Hintergründe ein und verdeutlicht, dass das juristische Tauziehen in einer zwischen Deutschland und der Schweiz politisch angespannten Zeit stattfand. Anschliessend werden Inhalt, Entstehung, Vorbilder und Verbreitung der «Protokolle» sowie deren Bedeutung im Nationalsozialismus näher beleuchtet. Die antisemitische Schrift schildert die angeblichen Pläne für die Errichtung einer jüdischen Weltherrschaft. Dies geschieht in Form von als Sitzungsberichte angedeuteten «Protokollen» – ohne jedoch Teilnehmer, Ort und Zeit der vermeintlichen Zusammenkünfte zu nennen. Titel und Inhalt suggerieren, dass eine «Weisen von Zion» genannte jüdische Geheimorganisation verschwörerische Weltherrschaftspläne entwickelte und diese Ambitionen protokollierte. Tatsächlich wurde die Hetzschrift jedoch Ende des 19. Jahrhunderts von einem unbekannten Autor in Frankreich auf russische Veranlassung hin verfasst und weist eindeutige Parallelen zu mehreren literarischen Vorbildern auf. Der so entstandene Text wurde später in zahlreiche Sprachen übertragen und mehrfach neu aufgelegt. Dies führte zu einer weltweiten Verbreitung der in den «Protokollen» enthaltenen obskuren Verschwörungstheorie, aus der leicht ein Aufruf zu Judenverfolgungen abgeleitet werden kann. Vor allem die Nationalsozialisten, darunter Adolf Hitler in Mein Kampf, nutzten die Schrift in propagandistischer Hinsicht als scheinbaren Beleg für ihr Judenbild. Neben vom nationalsozialistischen Parteiverlag gedruckten Exemplaren zirkulierten indes noch weitere Editionen der «Protokolle» – etwa diejenige des Antisemiten Theodor Frisch. Diese Ausgabe war es denn auch, die zum Berner Prozess führte, da sie 1933 auf einer im Berner Casino stattfindenden Versammlung der «Nationalen Front» zum Kauf angeboten worden war.

Nicht nur der politische, sondern auch der juristische Kontext prägte den Berner Prozess. In der Schweiz der 1930er gestaltete sich das juristische Vorgehen gegen antisemitische Schriften aufgrund fehlender Gesetzesgrundlagen generell schwierig. Die Klägerorganisationen, der Schweizer Israelitische Gemeindebund und Berns jüdische Gemeinde, liessen sich davon aber nicht abschrecken und bestimmten Bern aus strategischen Gründen zum Ort des juristischen Kräftemessens. Nur hier existierte ein Tatbestand, der ihnen womöglich Handhabe bot, um gegen die «Protokolle» vorzugehen: das 1916 erlassene «Gesetz über das Lichtspielwesen und Massnahmen gegen die Schundliteratur». Der Erfolg des Prozesses hing also primär davon ab, ob die Justiz die eingeklagte Schrift als Schundliteratur einstufen würde. Für das Verfahren war ein als Einzelrichter fungierender Gerichtspräsident zuständig, in concreto der Sozialdemokrat Walter Meyer.

Meyer kam am 14. Mai 1935 nach 23 Sitzungstagen zum Schluss, dass die «Protokolle» Schundliteratur darstellten und verurteilte die beiden an ihrer Verbreitung beteiligten Hauptangeschuldigten «Fröntler» Silvio Schnell und Theodor Fischer zu symbolischen Geldbussen. Diese legten daraufhin Berufung ein, sodass auch das Berner Obergericht sich über den politisch explosiven Fall beugen musste. Hofer weist in ihrer Analyse des ersten Prozesses (1933 – 1935) nach, dass Meyer keineswegs unbefangen zu Werk ging. Der Sozialdemokrat wollte die «Protokolle» als Plagiat entlarven und dem Antisemitismus und der Judenverfolgung so ihre scheinbare Legitimation entziehen – zumindest in der Schweiz. Er beabsichtigte weniger die Angeklagten zu bestrafen als vielmehr die Hetzschrift zu verurteilen. Dennoch bemühte sich Meyer, den Prozess nicht einseitig zu führen. So erlaubte er Privatklägern und Angeklagten jeweils Sachverständige zu bestimmen, was eine höchst ungewöhnliche Vorgehensweise darstellte. Während die Kläger unter anderem den Berner Publizisten und Nazigegner Carl Albert Loosli aufboten, bestimmten die Angeklagten den deutschen «Berufsantisemiten» und Exoffizier Ulrich Fleischhauer zu ihrem juristischen Beistand. Um den Schein der Befangenheit zu vermeiden, gestattete Meyer dem «Judenexperten» Fleischhauer gar vier Tage lang, seine radikalen rassistischen Sichtweisen zu verbreiten. Zur Brisanz, Dauer und den hohen Kosten dieses erstinstanzlichen Prozesses trug auch der Umstand bei, dass zahlreiche Zeugen aus dem In- und Ausland vorgeladen wurden, darunter Chaim Weizmann, der spätere erste Staatspräsident Israels.

Das zweite Gerichtsverfahren (1935 – 1937) endete mit dem Freispruch der beiden Angeklagten, da das Berner Obergericht die «Protokolle» im engeren juristischen Sinn nicht als Schundliteratur interpretierte. Die Richter standen bei diesem zweiten Prozess vor einem Dilemma. Einerseits verurteilten sie die «Protokolle» persönlich und waren sich der mit der antisemitischen Schrift verbundenen Gefahren bewusst. Andererseits bot ihnen die damalige Rechtslage relativ wenig Handhabe, um die Angeklagten zu verurteilen. Nichtsdestotrotz verdeutlichten die Richter ihre persönliche Ablehnung an verschiedenen Stellen der Urteilsbegründung. Sie unterstrichen diese Ablehnung auch mit dem Ausspruch von Rechtsfolgen, in dem sie den Freigesprochenen die in solchen Fällen übliche staatliche Entschädigung ihrer Prozesskosten verweigerten und gar eine Teilzahlung der Staatskosten auferlegten. Laut Hofer scheint der Freispruch der «Fröntler» nur auf den ersten Blick unverständlich oder – gemäss häufig formulierter Kritik – «formaljuristisch». Stattdessen bedeutete das Urteil vielmehr ein richterliches Bekenntnis zu rechtsstaatlichen Prinzipien und enthielt eine zumindest in juristischen Kreisen unmissverständliche Kritik am nationalsozialistischen Deutschland. Das Obergericht gewichtete die in der Schweiz verankerten Freiheitsrechte besonders stark, vor allem die Pressefreiheit und der Schutz des Individuums vor der Willkür staatlicher Bestrafung – entsprechend der etablierten Grundregel «keine Strafe ohne Gesetz».

Diese Freiheitsrechte kontrastierten mit den 1933 nach der nationalsozialistischen «Machtergreifung» in Deutschland abgeschafften Bürgerrechten (inklusive Pressefreiheit). Die Berner Richter waren ich bewusst, dass ihr Urteil auch Konsequenzen für die Schweizer Pressefreiheit haben konnte, zumal deutsche Vorwürfe einer angeblich nicht neutralen Schweizer Presse einen Teil des politischen Prozesshintergrunds bildeten. Insbesondere die heftigen Angriffe auf Hitler und Göring durch links gerichtete Zeitungen hatten die Nationalsozialisten erzürnt. Hofer betont indes, dass der politische Druck, das mächtige Nachbarland nicht zu brüskieren, bezüglich der richterlichen Motive keine signifikante Rolle spielte. Dies im Gegensatz zum Bundesrat, der bereits 1934 mit der Schaffung einer Rechtsgrundlage für Eingriffe in die Presse auf den nationalsozialistischen Druck reagierte. In den darauffolgenden Jahren sprach der Bundesrat diverse Verwarnungen und Aufrufe an kritische Zeitungen aus, womit ein hinsichtlich Verfassungsmässigkeit zweifelhaftes Verbot von Presseorganen in der Luft lag. Das Obergericht bekannte sich mit dem Urteil von 1937 jedoch explizit zur Schweizer Pressefreiheit und distanzierte sich so zugleich von der Gleichschaltung der deutschen Presse.

Der Freispruch enthielt laut Hofer indes auch eine implizite Kritik an der folgenschweren Änderung des deutschen Strafgesetzbuchs von 1935, welche primär die Abschaffung des Rechtsprinzips «keine Strafe ohne Gesetz» umfasste. Hauptmotiv hierfür bildete der Umstand, dass in der nationalsozialistischen Logik die «Volksgemeinschaft» und nicht das Individuum als höchster Wert galt. Da einige ranghohe Nationalsozialisten befürchteten, dass «keine Strafe ohne Gesetz» es (jüdischen) «Gemeinschädlingen» erlauben würde, ihre «volksfeindlichen Ziele» zu erreichen, lautete das neue Rechtsprinzip ab 1935 «keine Straftat ohne Bestrafung». Welche gesetzlich nicht geregelten «Straftaten» nun aber eine Bestrafung «verdienten», sollte jeweils nach «gesundem Volksempfinden» festgelegt werden. Diese ideologische Formulierung öffnete der juristischen Willkür Tür und Tor. Hofer weist nach, dass diese fragwürdige deutsche Justizreform den Berner Richtern höchstwahrscheinlich bekannt war, sodass sie deren Urteil auch als Kritik an dieser Rechtsauffassung versteht. Eines von mehreren Indizien für diese Schlussfolgerung bildet folgende Urteilspassage: «Der Richter ist nicht Gesetzgeber.»

Richter zwischen den Fronten stellt eine ausgezeichnete Studie dar. Die Autorin erörtert Befangenheiten, Motive und Handlungsspielräume von zahlreichen Akteuren und verknüpft diese mit der rechtlichen und politischen Situation und kommt so zu teilweise überraschenden Ergebnissen. Zudem berücksichtigt sie eine Fülle an Quellen und Sekundärliteratur, offenbart etliche juristische Nachspiele, analysiert andere zeitgenössische Gerichtsverfahren und illustriert anhand des Berner Prozesses zugleich die Schwierigkeiten, die sich ergeben können, wenn gesellschaftspolitische Probleme vor Gericht gelöst werden sollen. Wünschenswert wäre noch eine Darstellung der deutschen Reaktionen auf den Freispruch von 1937 gewesen, vor allem ob und wie die implizite Kritik des Obergerichts auch in nichtjuristischen Kreisen registriert wurde. Ein weiteres Plus bildet der vollständige Abdruck der beiden Berner Urteilstexte im zweiten Buchteil. Ihre Lektüre erlaubt die Überprüfung von Hofers Analysen und bietet Einblick in zeitgenössische juristische Rhetorik und Argumentation. Bereichernd ist auch der Epilog, der verdeutlicht, wie es nach 1937 mit den wichtigsten Protagonisten und gesetzlichen Bestimmungen weiterging. So erfährt man beispielsweise, dass der juristische Terminus Schundliteratur 1942 aufgehoben wurde und dass heute in der Schweiz Regelungen gelten, die eine Bestrafung mit bis zu drei Jahren Haft von Personen ermöglichen, welche die «Protokolle» verbreiten.

Zitierweise:
Rémy Limpach: Rezension zu: Hofer, Sybille: Richter zwischen den Fronten. Die Urteile des Berner Prozesses um die «Protokolle der Weisen von Zion» 1933 – 1937. Basel: Helbing Lichtenhahn 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 1, 2014, S. 61-64.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 76 Nr. 1, 2014, S. 61-64.

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